blinder Mann mit einem Kind im Babygestell am Rücken geht mit dem weissen Stock durch die Stadt.

«Früher war alles schwarz, jetzt sehe ich Farben»  

Text: Mirjam Bächtold 

In seinem Büro und den Beratungsräumen von obvita in St. Gallen bewegt sich Virgil Desax sicher. Auch ohne weissen Stock weiss er, wo ungefähr der Tisch steht und nimmt seine Hände tastend zur Hilfe. Doch wenn er raus geht und sich in der Stadt bewegt, ist er auf den Stock angewiesen. Der 36-Jährige ist seit 14 Jahren blind. Ursache war ein Fehler bei einer Operation eines Hirntumors, bei welcher der Sehnerv verletzt wurde. Danach musste Virgil Desax das Meistern seines Alltags neu lernen.

Den Alltag blind meistern  

Obwohl sein Erblinden hätte vermieden werden können, hat Virgil Desax nie damit gehadert. «Ich hatte immer gute Menschen um mich, die mich unterstützten», erinnert sich der St. Galler. Vielleicht habe auch der Hoffnungsschimmer geholfen, den ihm die Ärzte gaben: Dass seine Sehkraft vielleicht zu einem Teil zurückkehren würde. Doch das tat sie nicht und mittlerweile rechnet er nicht mehr damit. «Anfangs half es, dass ich dachte, es sei vielleicht nicht permanent. Ich sah es als spannende Herausforderung, den Alltag blind zu meistern», erzählt er. Virgil Desax liess sich von der Blindheit nie behindern oder unterkriegen. Er machte sogar weiterhin Sport, ging schwimmen, Tandem fahren, Indoor-Klettern, Wakesurfen und in Begleitung Ski fahren.

Seine Sehkraft ist zwar nicht zurückgekehrt, doch es sei auch nicht mehr alles einfach schwarz, wie am Anfang: «Vor dem inneren Auge sehe die verschiedensten Farben und Sterne, die ständig in Bewegung sind. Wenn es mir gut geht, sind die Farben heller. Am Morgen sind sie meist etwas dunkler», sagt er und lacht.

Er sei froh, dass er nicht seit Geburt blind war, sondern früher sehen konnte. «Viele denken, das sei schlimmer, weil ich dann weiss, was ich nun verpasse. Aber dadurch, dass ich mal sehen konnte, kann ich mir Ortschaften oder Gesichter und Menschen vorstellen. Ich kann sehr gut visualisieren», sagt er.

«Ich visualisiere Gesichter»

Auch seine Frau hat Virgil Desax nie gesehen. Er hat sie erst nach seiner Erblindung auf einer Online-Dating-Seite kennengelernt. «Für Blinde ist das sehr praktisch, es gibt sonst nicht viele Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen.» Doch er hat Bilder von seiner Familie im Kopf. «Dabei hilft es natürlich, dass ich ihre Gesichter abtasten kann, das gibt mir zusätzliche Informationen», schildert er. Seine Tochter ist dreieinhalb Jahre alt und sein Sohn ist jährig. «Wenn ich mit meiner Tochter unterwegs bin, unterstützt sie mich spielerisch, sagt mir, wenn etwas im Weg ist oder ich in die falsche Richtung laufe.»

Nach der Erblindung musste Virgil Desax auch einen neuen Beruf erlernen. Zuerst absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung bei obvita und begann, als Sehberater in der Organisation zu arbeiten. Vor bald viel Jahren startete er zudem noch die Ausbildung zum therapeutischen Masseur. Nun hat er zwei Standbeine, neben der Stelle bei obvita arbeitet er als Masseur im Säntispark. «Und einen Tag pro Woche kümmere ich mich um die Kinder», sagt er. Manchmal gebe es Leute, die denken, blinde Personen können nicht auf Kinder aufpassen, doch Virgil Desax beweist das Gegenteil. Seine Tochter trägt immer ein Glöckchen, wenn er mit ihr allein unterwegs ist, damit er hört, wo sie ist. In kritischen Situationen, etwa an einer Strasse oder am Seeufer, nimmt er sie an die Hand oder auf die Schulter.

Mehr Achtsamkeit für Blinde

Für Virgil Desax ist wichtig, dass die Bevölkerung vermehrt sensibilisiert wird für die Belange von Menschen mit einer Behinderung. Denn im öffentlichen Raum gibt es viele Hindernisse, mit denen Sehbehinderte und Blinde im Alltag zu kämpfen haben.

Das Handy-Zeitalter hat diese Probleme noch verstärkt. Denn oft sind Passanten unaufmerksam, da sie aufs Handy schauen und nicht auf die Umgebung und die Mitmenschen achten. «Es ist mir auch schon passiert, dass Leute über meinen Stock gestolpert sind», sagt Virgil Desax und lacht. Er hat sich seinen Humor immer bewahrt und scherzt auch über seine Blindheit. «Man muss ab und zu auch über sich selbst lachen. Und wenn die Witze gut sind, dürfen auch Aussenstehende sie machen.»

 «Grundsätzlich kann ich meinen Alltag allein meistern, aber es wäre schön, wenn andere aufmerksam sind und bei Problemen helfen», sagt er. Das sei allgemein gemeint und nicht nur auf sehbehinderte Menschen bezogen. Auch ältere Menschen bräuchten ab und zu Hilfe. Hindernisse sind nicht nur unaufmerksame Personen, sondern auch mitten auf dem Trottoir abgestellte E-Trottinetts oder Gruppen von Menschen, die nicht ausweichen. Auch wer am Bahnhof oder auf grossen Plätzen auf den weissen Leitlinien steht, behindert dadurch Blinde. «Blind zu sein, heisst nicht automatisch, dass man Hilfe braucht. Aber mit etwas Aufmerksamkeit merkt man, ob jemand Hilfe benötigt – unabhängig davon, ob die Person sehen kann oder nicht.»

Bericht Appenzeller Volksfreund, 12. Oktober 2023