Die O+M Trainerin Sabine Schmidt von obvita erklärt Marco anhand einer taktilen Karte die Gegebenheiten im Selbstbedienungsladen der Migros Bach

Trotz Tunnelblick weitsichtig

Es ist eine Wahnsinns-Geschichte, doch Marco Antonio de Olivera Paulo hat sie auch wahnsinnig taff gemeistert.

Es hätte alles so schön sein können.

Marco Antonio de Olivera Paulo ist als Storenmonteur tätig, verheiratet und in Bischofszell zu Hause. Der Portugiese geniesst sein Leben und ist glücklich. Nur die Kopfschmerzen machen ihm zu schaffen, vielfach sind es auch starke Migräne-Anfälle. Doch der Arzt verschreibt ihm jedes Mal Schmerztabletten, teilweise in hoher Dosis bis zu 1000mg. Nichtsahnend schluckt er die Medikamente und erträgt die Kopfschmerzen. Immer und immer wieder.

Seine persönliche Veränderung kommt schleichend:

Da mal einen Termin vergessen, dort eine Rechnung nicht bezahlt. Mit der Zeit wird es zusehends schlimmer, er macht bei der Arbeit öfters Fehler, verhält sich eigenartig und teilnahmslos, niemand will mehr mit ihm zusammenarbeiten. Sein damaliger Chef gibt ihm mehrere Chancen, bis es einfach nicht mehr geht und er ihm fristlos kündigen muss. Auch die Ehe bröckelt, weil Marco emotionslos reagiert, sich zurückzieht, zu nichts mehr Lust hat und zwischen Expressivität und Lethargie hin und her schwankt. Das geht so weit, dass er sich nicht mehr pflegt, kaum mehr spricht, Zahlungen ignoriert und Schulden macht. Seine Frau sieht keinen Ausweg mehr und trennt sich von ihm. Noch immer ahnt niemand, was wirklich mit ihm los ist.

Dann kommt der totale Zusammenbruch.

Marco erinnert sich noch, dass die Polizei in der Wohnung steht und ihn in die psychiatrische Klinik Münsterlingen bringt. Das Davor ist komplett weg. Seine Ex-Frau erzählt ihm im Nachhinein, er sei völlig verwahrlost gewesen. Erst ein paar Tage nach der Einweisung in die geschlossene Anstalt werden im Spital Münsterlingen genauere Untersuchungen gemacht und die Ärzte entdecken den faustgrossen Hirntumor, der einen Teil des Frontallappens, also das «soziale Leben des Hirns» eingeschränkt hat. Deshalb war Marco unfähig geworden, Emotionen zu zeigen respektive richtig einzuordnen. «Ich war fassungslos, auch wütend, dass der Tumor erst jetzt entdeckt wurde», sagt Marco. Dann geht alles sehr schnell: Er wird ins Kantonsspital St.Gallen überführt und sofort operiert. Es ist der 22. Juli 2022, der sein Leben komplett verändert. Das Glück im Unglück: Der Tumor liegt an der linken vorderen Stirnhälfte und kann gut entfernt werden. Direkt nach der OP sieht Marco noch gut, doch nach ein paar Tagen verschlechtert sich der Zustand und es kommt zur konstanten Sehbeeinträchtigung. Seither sieht Marco noch 70-80% auf dem linken Auge und knapp 5% auf dem rechten Auge, in der Mitte ist alles verschwommen und er muss fortan mit dem sogenannten Tunnelblick zurechtkommen. Nicht nur das, auch das Gehen, Sprechen, Essen und sonstige alltäglichen Dinge muss Marco wieder lernen. Drei Monate weilt er in der Reha-Klinik in Zihlschlacht, um ins Leben zurückzufinden. Im Oktober 2022 kommt er zu obvita. Er lebt zusammen mit einer anderen Bewohnerin in einer WG im Wohnen extern. Hier lernt er, mit dem neuen Alltag umzugehen, dazu gehört auch das Training mit dem weissen Stock bei Sabine Schmidt. Des Weiteren sind Abklärungen mit der IV bezüglich Seh-Hilfsmittel und Umschulung im Gange, denn Marco wird nicht mehr als Storenmonteur arbeiten können. Aktuell arbeitet er Teilzeit in der Ausrüsterei von obvita.

Marco mit dem weissen Stock beim Einkaufen in der Migros.
Die O+M Trainerin Sabine Schmidt von obvita lehrt Marco die Handhabung der elektronischen Hilfsmittel.

Marcos Leben hat sich um 180 Grad gedreht, doch er ist ein Kämpfer und schaut dem neuen Leben positiv entgegen. «Klar, mache ich mir manchmal Gedanken, wie ich das alles schaffe mit Schulden zurückzahlen, Umschulung, selbständig wohnen, aber die Leute bei obvita sind eine grosse Stütze und helfen mir auf dem Weg zur Normalität», sagt Marco zuversichtlich. Und so erstaunt es auch nicht, dass er bereits von seiner Zukunft träumt: «Mein Ziel ist, irgendwann wieder in Bischofszell zu wohnen, denn dort ist mein Umfeld, dort fühle ich mich zu Hause». Jetzt konzentriert er sich aber auf das Sprach- und Sehtraining, um den Alltag wieder eigenständig in den Griff zu bekommen. Danach wird man weitersehen. «Die letzten vier Jahre waren wirklich krass, aber ich bin guter Dinge, das Leben wieder geniessen zu können, so wie ich mir das vorstelle. Und: Ich habe endlich keine Kopfschmerzen mehr.» Noch vor ein paar Monaten lag Marco auf der Intensivstation, konnte weder gehen, sprechen noch sehen. Heute sitzt da ein lebhafter, kommunikativer und lebensfroher Mensch, der gerade 40 Jahre alt geworden ist und von seinen Plänen erzählt.

Wie funktioniert einkaufen, wenn man nichts sieht?

obvita bietet ihren Klient:innen eine Schulung in Orientierung und Mobilität an. Während einer solchen Schulung können blinde oder sehbeeinträchtigte Personen lernen sich wieder besser im Alltag zurecht zu finden. Das kann der Umgang mit dem ÖV sein, den Arbeitsweg zu finden oder alltägliche Dinge zu erledigen, wie z.B. Einkaufen. Die O+M Trainerin Sabine Schmidt von obvita hat zusammen mit der Migros Bach, St.Fiden, ein Konzept, inklusive einer taktil wahrnehmbaren Karte umgesetzt, dass sich sehbeeinträchtigte Personen im Selbstbedienungsladen zurechtfinden und ihre Einkäufe auf möglichst selbständige Weise erledigen können.

Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich jede seheingeschränkte oder blinde Person auch direkt beim Verkaufspersonal meldet, damit sie Unterstützung und Begleitung beim Einkaufen erhalten.

Marco macht es auf jeden Fall ganz gut!

Marco nimmt sich einen Einkaufskorb
Marco und Sabine orientieren sich mit Hilfe der taktilen Karte
Marco scannt die Produktebeschreibung mit Hilfe seines Smartphones
Marco beim Bezahlen seiner Einkäufe an der Selbstbedienungskasse