Pietro an seinem Arbeitsplatz bei Helsana in St. Gallen

Mit «blinder» Disziplin zum sichtbaren Erfolg

Ein tätlicher Angriff verändert das Leben von Pietro schlagartig, denn er wird fast blind dabei. Doch trotz seines Schicksals hat der heute 25-Jährige nur ein Ziel vor Augen, es in den 1. Arbeitsmarkt zu schaffen. Und es gelingt ihm auch.

Wir besuchen Pietro bei Helsana in St. Gallen, seinem Arbeitgeber, wo er uns seinen top eingerichteten Arbeitsplatz mit den Sehhilfen und den speziellen Bildschirmen zeigt. Gleichzeitig erfahren wir von Bettina Weber und Iris Rechsteiner, was es bedeutet, einen sehbeeinträchtigten Mitarbeitenden zu beschäftigen.

Pietro, erzählst du uns nochmals kurz, was damals genau passiert ist?

Seit meiner Geburt lebte ich mit dem grünen Star, dieser schränkte mein Sehvermögen aber überhaupt nicht ein. Ich hatte eine normale Kindheit, spielte leidenschaftlich Fussball und kam gut in der Schule mit. Doch dann kam jener Moment im Jahr 2011, als ich auf dem Schulhausplatz angegriffen wurde. Dadurch brach der grüne Star aus, seither sehe ich auf dem rechten Auge nur noch fünf Prozent, auf dem linken zehn Prozent.

Und deswegen bist du zu obvita gekommen?

Ja, genau. Mein Wunschberuf war Architekt, ich liebte es, Gebäude zu zeichnen, war stark in Mathe und hatte ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen, aber aufgrund meiner Sehschwäche musste ich die Kanti abbrechen und meinen Traum vergessen. So kam ich zu obvita und absolvierte eine KV-Lehre. Hier standen mir wertvolle Hilfsmittel zur Verfügung, auch die Sehberatung war top. Gerade habe ich die Lehre abgeschlossen, ein herrliches Gefühl!

Bettina, wie kam es zur Anstellung von Pietro?

Wir stehen schon seit Jahren in Kontakt mit Gabi Soldati, Ausbildungsverantwortliche von obvita. Sie schickt uns immer mal wieder Lernende, die bei uns kurz reinschauen. Im Sommer 2021 kam die Anfrage eines Praktikums für Pietro; er arbeitete drei Monate bei uns. Wir waren von ihm und seinen Leistungen begeistert und so haben wir mit Gabi vereinbart, dass Pietro das letzte halbe Jahr seiner KV-Ausbildung bei uns absolviert, inklusive einer temporären Anschlusslösung bis Januar 2023.

Was ist hier anders als bei obvita?

Pietro: Bei obvita hat man keinen Druck und viel Zeit für die Aufgaben. Aber da ich sehr schnell arbeite und alles gut machen will, war mir bei obvita ab und zu langweilig. Dafür konnte ich die freie Zeit fürs Lernen nutzen. Hier ist die Arbeit anspruchsvoll, man muss sich viel Wissen aneignen, was mir sehr gefällt. Und ich kann meine Schnelligkeit ausleben mit der Kundenberatung am Telefon.

Was sind eure Beweggründe, Menschen von obvita zu beschäftigen?

Iris: Für uns sind Einschränkungen keine Hindernisse. Und gerade bei Pietro zeigt sich sehr schön: Er lernt nicht nur von uns, sondern wir auch von ihm. Unseren Lernenden müssen wir zum Beispiel immer wieder predigen, dass sie richtig hinhören sollen. Pietro macht das automatisch. Wichtig ist einfach, dass man das Team darauf vorbereitet, worauf es zu achten gilt. Im Falle von Pietro sind es kleine Dinge, wie zum Beispiel, dass man es nicht persönlich nimmt, wenn er von weitem nicht zurückwinkt, da er nicht gut sieht.

Bringt die Sehbeeinträchtigung von Pietro Mehraufwand für das Unternehmen?

Bettina: Nein, überhaupt nicht. Wir mussten nur den Tisch zur Verfügung stellen, alles andere lieferte obvita, auch die speziellen Sehhilfen. Selbst die Berufsbildung lief komplett über obvita, daher hatten wir nicht mehr Aufwand als mit üblichen Lernenden.

Iris: Einzig unsere Arbeitsgestaltung mit dem Flex-Office geht bei Pietro natürlich nicht. Er hat einen festen Arbeitsplatz, was alle im Team verstehen. Zudem sind die Pausenzeiten bei Pietro anders geregelt, da er seine Augen regelmässiger entlasten muss.

Pietro, den Traum des 1. Arbeitsmarktes hast du dir erfüllen können. Gibt es ein weiteres Ziel?

Ja, ich will später eine Weiterbildung im Personal- oder Finanzbereich absolvieren, irgendwann eine Führungsposition übernehmen oder mich selbständig machen und eine eigene Firma aufbauen.

Was rät ihr Unternehmen, die in Betracht ziehen, Menschen mit Beeinträchtigung einzustellen?

Bettina: Es einfach zu versuchen, allfällige Hemmschwellen zu überwinden und den Aufwand nicht zu scheuen. Oft ist es kein Mehraufwand, sondern ein echter Mehrwert. So erleben wir es auch mit Pietro. Zudem werden wir von obvita bestens unterstützt.

Was war euer schönstes Erlebnis in dieser Geschichte?

Iris: Das abschliessende Gespräch mit der Invalidenversicherung (IV). Wir gingen zusammen zu obvita und Pietro verkündete seinem IV-Berater, dass dies sein letztes Gespräch mit ihm sei. Ich sah in seinem Gesicht, wie bedeutsam dieser Moment für ihn war.

Pietro: Ich wollte es unbedingt in den 1. Arbeitsmarkt schaffen, und auch wenn es nicht immer leicht war, habe ich mein Ziel erreicht. Darum werde ich das Abschlussgespräch mit der IV nie vergessen! Und auch nicht mein «Grinsen», als ich dem IV-Berater Lebewohl sagen konnte.

Die private Geschichte von Pietro lesen Sie hier.