Menschen beim kreativen Arbeiten im Tageszentrum.

Über kreative Wege neue Perspektiven schaffen

Dort, wo früher Studierende unterrichtet wurden, wird heute gemalt, getöpfert und gekocht: Seit April 2023 hat das obvita Tageszentrum inmitten der Stadt St. Gallen geöffnet. Hier finden erwachsene Menschen mit einer psychischen Erkrankung eine Struktur im Alltag und eine sinnvolle Beschäftigung. Die Nachfrage ist gross. Zurzeit kommen 30 Personen regelmässig ins Tageszentrum.

Teilnehmer im Tageszentrum am Nähen unter Anleitung.

Simone Noll steht in der Küche und schneidet die Rüebli. Sie sollen später den Blattsalat garnieren, den es nebst gefüllten Omeletten zum Zmittag gibt. Den Teig für die Omeletten hat die Betreuerin bereits angerührt. Dieser wartet im Kühlschrank auf seinen Einsatz. Es ist Mittwochmorgen und Simone Noll ist für die Zubereitung des Mittagessens verantwortlich. Die Sozialpädagogin ist Teil des dreiköpfigen Leitungsteams des neuen Tageszentrums von obvita an der Teufenerstrasse 2/4 in St. Gallen. Die anderen beiden im Team sind Sozialarbeiter Silvio Odoni und Sozialarbeiterin Sandra Peterer. Nebst ihrer betreuenden und administrativen Tätigkeit wechseln sich die drei regelmässig mit der Arbeit in der Küche ab. «Das Einkaufen und Kochen, das Essen und Abwaschen sind ein wichtiger Teil der täglichen Routine und bei unseren Klientinnen und Klienten sehr beliebt», sagt Simone Noll. Sie ist denn auch nicht allein in der grosszügig gebauten und modern eingerichteten Küche. Die Teilnehmerin Sandra steht neben ihr und zupft die Salatblätter in kleine Stücke. Die beiden reden über dieses und jenes, es wird viel gelacht. «Ich helfe sehr gerne», sagt Sandra und erzählt, dass sie an zwei halben Tagen in der Woche ins Tageszentrum komme. «Vielleicht wird es später einmal mehr sein, aber zuerst möchte ich schauen, wie es hier so ist und ob es mir gefällt.» Und der erste Eindruck sei sehr gut, alle seien sehr nett, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht.

Das obvita Tageszentrum hat seit April 2023 geöffnet. Es bietet Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren mit einer psychischen Erkrankung eine Struktur auf dem Weg zurück in den Alltag. «Es ist wichtig, dass diese Menschen eine Möglichkeit haben, aus der Isolation zuhause herauszukommen und sich trotzdem in einem geschützten Umfeld befinden», sagt Silvio Odoni. Damit wolle man Krisen frühzeitig erkennen, um weitere Klinikaufenthalte zu vermeiden.

Krisen frühzeitig erkennen

Bislang fehlte bei obvita ein solches Angebot für diese Personengruppe. Als die Nachfrage in den vergangenen Jahren stetig stieg, entschied sich die soziale Institution, ein Tageszentrum als Ort der Begegnung zu schaffen, an dem gleichzeitig die Kreativität und das handwerkliche Geschick gefördert sowie neue Perspektiven für die Zukunft geschaffen werden. «Ein therapeutisches Setting sind wir allerdings nicht», betont der Betreuer. Dafür seien Psychologinnen und Psychologen, Psychiater und Psychiaterinnen zuständig. Die Teilnahme im Tageszentrum ist freiwillig. Einzige Voraussetzungen sind: Die Menschen erhalten aufgrund ihrer psychischen Erkrankung eine IV-Rente oder ihr Antrag auf Rente wird gerade geprüft. Zudem müssen sie eigenständig anreisen und sich unter Anleitung selbst beschäftigen können.

Im obvita Tageszentrum ist Selbstbestimmtheit ein wichtiges Thema. Menschen, die hierherkommen, arbeiten eigenständig an ihren Projekten, bei Bedarf werden sie von jemandem aus dem Team unterstützt. Alle drei Betreuenden haben nebst ihrer langjährigen Berufserfahrung diverse Weiterbildungen im kunsthandwerklichen Bereich absolviert. Für die Teilnehmenden gibt es keinen Leistungsdruck, aber auch keinen Lohn. Eine Arbeitsvereinbarung regelt die Zusammenarbeit. «Aktuell sind 30 Personen bei uns angemeldet», sagt Sandra Peterer. Wann und wie oft sie ins Tageszentrum kommen, können diese Menschen selbst entscheiden. «Zwei halbe Tage pro Woche sind das Minimum», sagt Silvio Odoni. Es gebe aber solche, die jeden Tag kämen.

Malen, töpfern, nähen oder stricken

Einer von ihnen ist Patrick. Nach einem Burnout versucht der gelernte Koch wieder Fuss im Leben zu fassen. Die Struktur und die Menschen im Tageszentrum sowie die verschiedenen kreativen Tätigkeiten, die es bietet, helfen ihm dabei. Meistens malt er. So auch an diesem Morgen. Auf dem mit Zeitungen abgedeckten Tisch liegt eine weisse Leinwand, die allmählich zu einem bunten Mix aus gelber, roter und oranger Farbe wird. Patrick legt den Pinsel auf die Seite, beugt sich über das Bild und beäugt es kritisch. «Vorher war ich nicht so zufrieden und habe es deshalb übermalt», sagt er. Jetzt gefalle ihm das Bild schon besser. Die Farben, die er auswählt, spiegeln seine Gefühlswelt. In dunklen Stunden dominiere die Farbe Schwarz. Heute aber sei ein guter Tag, deshalb auch die hellen, fröhlichen Farben, sagt er und lächelt. Am Tageszentrum schätzt Patrick, dass er seinen Tag gestalten kann, wie er will. «Mir wird nichts vorgeschrieben. Ich kann kommen und gehen, wann ich will, und trotzdem ist immer jemand da, wenn ich Unterstützung beim kreativen Schaffen oder einfach nur reden möchte», sagt er. Am Tisch nebenan sitzt Vera, ganz ins Zeichnen vertieft. Sie gestaltet eine Geburtstagskarte, auf der die Wünsche ans Geburtstagskind festgehalten werden können. «Jahrelang habe ich nicht mehr gezeichnet», sagt sie und freut sich, im Tageszentrum ihre Kreativität wiedergefunden zu haben. Vera ist an drei Tagen in der Woche vor Ort, meistens im Mal-Atelier. Auch ihr gefallen die Freiheiten, die sie hier hat. Wünschen würde sie sich nur etwas mehr Bewegung. Ein gemeinsamer Spaziergang oder Ausflug pro Woche fände sie toll.

Der Mal-Bereich ist eines von fünf Ateliers, die im Tageszentrum angeboten werden. Es befindet sich im gleichen Raum wie die Küche, die den hauswirtschaftlichen Teil abdeckt, kann aber bei Bedarf durch eine verschiebbare Wand abgetrennt werden. Im unteren Stock können sich die Klientinnen und Klienten mit Holz, Keramik und Textilien ausgiebig beschäftigen. Jedes Atelier bietet genügend Platz, reichlich Material und viele Ideen. In der Holzwerkstatt wird beispielsweise gerade eine Ablage für die Küche gefertigt und im Nähatelier der Stoff für eine leichte Sommerhose zugeschnitten. Die Räume im Tageszentrum sind modern, aber auch mit vielen gebrauchten Gegenständen, die hübsch hergerichtet wurden, eingerichtet. So findet man beispielsweise in einer Nische mehrere Birken-Stämme zur Dekoration und an einer Wand zahlreiche Wollknäuel, die das Tageszentrum geschenkt bekommen hat und nun farblich sortiert ein schönes Kunstwerk ergeben.

Bevor sich das soziale Unternehmen des Ostschweizer Blindenfürsorgevereins in die Räume an der Teufenerstrasse 2/4 einmietete, waren diese jahrelang von der Fachhochschule Ostschweiz und einem Weiterbildungszentrum genutzt worden. Nach deren Auszug bekamen die Räume innerhalb von fünf Monaten eine Rundumerneuerung, und heute erinnert nur noch wenig an die Zeiten von Schule und Weiterbildung.

Dankbar für die Unterstützung

In der Küche im oberen Stock ist der Salat mittlerweile klein geschnitten und wird nun Blatt für Blatt von Sandra gewaschen. «Sie arbeitet sorgfältig und ist sehr geduldig», sagt Simone Noll, die die Pilze für die Omelette-Füllung schneidet und sich über die Unterstützung freut. Neben der Hilfe in der Küche verbringt Sandra am liebsten Zeit mit Häkeln und Diamond Painting. Bei letzterem werden kleine bunte Kunststoffperlen auf einer mit Kleber beschichteten Leinwand zu einem Motiv zusammengesetzt. Damit kann sie sich stundenlang beschäftigen, obwohl sie eine starke Sehbeeinträchtigung hat. «Zum Glück wurde mir hier im Tageszentrum ein Holz-Gestell gebaut, das ich höherstellen kann.» Darauf kann sie die Leinwand für das Diamond Painting legen und muss sich nicht mehr so weit nach vorne bücken. «Das ist super», sagt sie, lacht und wendet sich wieder den Salatblättern zu. Noch ein paar wenige müssen gewaschen werden, dann ist der Salat parat für das Mittagessen.