Liam und Bettina Gantenbein bei der Arbeit
Liam ist ein quirliger Junge, der immer in Bewegung ist. Und immer mit dabei: seine Brille. Selbst beim Schwimmen trägt er sie. Denn bei aller Kurzsichtigkeit: Er will sehen, was er anstellt.
Im Dachstock des schmucken Altbaus riecht es nach Flammkuchen. Elena hüpft durch die Stube, Baby Julian quietscht freudig, während Liam am Küchentisch mit Bettina Gantenbein konzentriert arbeitet. Gerade probieren sie die neue Tischleseleuchte aus, die die Heilpädagogische Früherzieherin von obvita mitgebracht hat. Die Leuchte ist speziell für den Low Vision-Bereich entwickelt worden. Genau, was Liam braucht, denn er ist stark kurzsichtig und nachtblind. Heute steht das Gewöhnen an die neue Brille auf dem Plan. Seit letztem Jahr haben sich seine Dioptrien-Werte wieder verschlechtert; mittlerweile liegen sie bei 10.5. Bettina Gantenbein lernt mit ihm auf spielerische Weise die Abstände zum iPad, die Rechts-Links-Bewegungen und das visuelle Folgen. Dann stimmen sie ein Lied an; Liam singt munter mit.
Trotz seiner Augen-Krankheiten ist Liam ein aufgeweckter Junge, der weder motorisch noch kognitiv Probleme hat. Und doch ist der Alltag teilweise ein anderer. «Vieles geht bei Liam einfach etwas länger, gerade das Suchen oder Aufräumen von Spielzeug. Auch beim Büchlein anschauen wird er schnell müde», sagt Mutter Livia. «Aber wir lernen damit umzugehen und es klappt auch schon viel besser als noch vor einem halben Jahr.» Mehr zu schaffen macht den Eltern die späteren Jahre: Was ist, wenn sich die Kurzsichtigkeit weiter verschlimmert? Die Augenärzte stellten bis anhin keine Prognose dazu. Und wie soll das mit der Nachtblindheit gehen, wenn Liam abends unterwegs ist? «Da frage ich mich schon, wie er später damit klarkommt», so Livia. «Ich habe grosse Hoffnung, dass sich in den kommenden Jahren noch viel tut in Sachen Gläsern und Hilfsmitteln», beruhigt Vater André. Und er mag damit recht haben, denn in Kürze bekommt Liam einen Kantenfilter, der den Kontrast verstärken soll.
Inzwischen ist die Therapiestunde zu Ende, Liam setzt sich zur Familie aufs Sofa und verdrückt ein Stück Flammkuchen. Seit Februar 2021 werden sie durch die Sehberatung von obvita betreut, zugewiesen vom Kantonsspital St.Gallen, als die Diagnosen feststanden. Im ersten Halbjahr kam Bettina Gantenbein wöchentlich zu ihnen nach Hause, seit August 2021 finden die Sehberatungen zweimal monatlich in verschiedenen Settings statt, sei es zu Hause, in der Spielgruppe oder im visiotreff. «Liam öffnet immer total begeistert die Haustüre und will sofort sehen, was ich alles mitgebracht habe». Sie erzählt von seinen Fortschritten, dass er sich aktiv an den Sehübungen beteiligt. Dabei wird vor allem am Gestaltschliessen wie Puzzeln oder Ergänzen sowie am räumlichen Sehen durch Bewegungen gearbeitet. Das erweiterte Konzentrieren läuft übergeordnet mit. «Liam gelingt es sehr gut, das visuell Gelernte in verschiedenen Bereichen adäquat anzuwenden».
Noch ein Jahr ist Liam in der Früherziehung, dann kommt er in den Kindergarten. Dort werden die Lichtverhältnisse geprüft und die Kindergärtnerinnen instruiert, inklusive den neuen «Gspändli». Ziel ist, alle für die Sehbeeinträchtigung von Liam zu sensibilisieren. Seine Fortschritte sind deutlich sichtbar, doch niemand weiss, was die Zukunft bringt. obvita wird mit der Familie fortlaufend schauen. «Ich mache mir da keine Sorgen, denn die Eltern machen das grossartig; sie setzen unsere Inputs für den Alltag um und üben die visuellen Fertigkeiten mit Liam täglich», sagt Bettina Gantenbein zum Abschied und verlässt mit vollbepackter Tasche das Haus.