Blindes Vertrauen im Familienalltag.

Ein blinder Mann trägt sein kleines Kind auf den Schultern.

Virgil Desax kocht, putzt, geht mit den Kindern auf den Spielplatz, schaut mit ihnen Bilderbücher an, baut Legotürme. Wie ein gewöhnlicher Familienvater, doch der 37-Jährige ist blind. Dass dies jedoch kein Hindernis ist, wird bei einem Besuch der Familie spür- und sichtbar.

Den Alltag blind meistern

Virgil und Sandra lernen sich auf einer gängigen Online-Dating-Plattform kennen. Im Profil schreibt Virgil nur, dass er ziemlich normal, aber bei weitem nicht 0815 sei. Sandra lacht: «Ja, das passt noch heute zu dir!» Erst nach ein paar Nachrichten erfährt sie, dass er blind ist. Sandra hat keine Berührungsängste, denn als Sozialpädagogin ist sie sich den Umgang mit beeinträchtigten Menschen gewohnt. Schnell merken die beiden, dass sie gut harmonieren, sich optimal ergänzen, und zu einer Einheit zusammenwachsen. Von Anfang an dabei: ihr Kinderwunsch. So lautet dann auch ihr Plan: «Wir versuchen es mit einem Kind, dann schauen wir wieder.» Heute sind es zwei aufgeweckte Kinder, die ihr Familienglück perfekt machen.

Eine vierköpfige Familie sitzt auf einer hellblauen Couch. Der Vater macht ein Selfie, während die Mutter und zwei kleine Kinder, von denen eines ein buntes Buch in der Hand hält, lächeln und sich gemeinsam entspannen.

«Für viele Dinge nehmen wir uns einfach mehr Zeit und sprechen offen darüber, wenn es dem einen oder anderen zu viel wird», so Sandra. Virgils grösste Herausforderung ist, mit den Kindern allein unterwegs zu sein. «Wenn ich mit beiden Kindern unterwegs bin, nehme ich lieber bekannte Wege und Orte, um die Sicherheit zu gewährleisten.» Auf dem Spielplatz ist er äusserst wachsam. Levi trägt draussen ein Glöckchen, so weiss Virgil immer, wo der Kleine sich aufhält. Neue Dinge probieren Sandra und Virgil zusammen aus, um herauszufinden, wie weit sie gehen können. Zu Hause bewegt sich Virgil sicher, da macht es auch nichts, wenn Spielsachen herumliegen. «Das mit dem selbständigen Aufräumen haben wir nämlich noch nicht im Griff mit den Kindern», scherzt Virgil.

Ein lächelnder Mann trägt ein glückliches Kleinkind auf seinen Schultern in einem Haus. Im Hintergrund sitzen eine Frau und ein weiteres Kind auf einem Sofa, alle wirken entspannt und fröhlich in einem hellen Wohnzimmer.

Interessant ist die Aufgabenteilung im Haushalt: Virgil ist für die Küche und das Bad verantwortlich. Genau jene Räume, die ihre Ansprüche haben. Doch Virgil winkt ab, es seien alles glatte Oberflächen, da könne er mit System putzen und merke beim Drüberfahren, wenn sich noch schmutziger Widerstand zeige. Auch Mails checken, WhatsApps schreiben, Fotos von den Kindern schiessen – all das ist für Virgil kein Problem. Und seit es KI-Tools gibt, wird auch die Technik immer cleverer. War die Bildbeschreibung bis anhin noch rudimentär mit «Frau, Kinder, Sofa», teilt die KI-Stimme detailliert mit, wer was trägt, welches Bildmotiv an der Wand hängt und ob die Kinder Grimassen schneiden.

Eine Hand hält ein Smartphone, auf dem ein Familienfoto und eine lange Nachricht in deutscher Sprache in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund zu sehen sind, mit einem verschwommenen Kind im Hintergrund.


Virgils Vorteil: Er konnte sehen, bis er 22 Jahre alt war. Noch heute kann er Situationen mit früheren Bildern verknüpfen und visualisieren. Ein weiterer Vorteil ist sein unbändiger Optimismus; mit seiner Blindheit hat er nie gehadert. Erst seit er Kinder hat, wünscht er sich manchmal, gewisse Augenblicke sehen zu können. «Gerade heute Morgen, als Valentina ihr Birchermüesli auslöffelte und dabei herzhaft schmatzte.» Doch Virgil und Sandra sind dankbar, den Familienalltag in seiner ganzen Bandbreite geniessen zu können. «Es ist ja nicht das Sehen allein, das entscheidend ist in der Erziehung. Es braucht viele weitere Fähigkeiten und Virgil hat jede Menge davon. Er ist viel präsenter, aufmerksamer und er ist den Kindern extrem nah», so Sandra.


«Uns ist zudem wichtig, dass wir ihnen nicht das Gefühl vermitteln, sie müssten mich unterwegs in der Orientierung unterstützen, vielmehr gehen wir spielerisch damit um», ergänzt Virgil. Das scheint ihnen zu gelingen. Als wir uns auf den Spaziergang machen, zappelt Levi vergnügt auf Papas Schultern, Valentina kommentiert alles, was sie sieht, und steckt sich eifrig Kastanien ins Täschchen. «Papa, wenn wir zu Hause sind, basteln wir miteinander Marronimännchen!»

Über Virgil

Virgil Desax hatte einen Hirntumor und bei dessen Entfernung wurde sein Sehnerv verletzt. Nach der Erblindung absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung bei obvita, heute ist er als Sehberater für blinde Menschen bei uns tätig. Zudem hat er vor vier Jahren die Ausbildung zum therapeutischen Masseur gemacht und arbeitet aktuell in Teilzeit als Masseur im Säntispark.

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