Seit über 120 Jahren engagiert sich obvita für die Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Mit Beratungen, Wohnmöglichkeiten und Ausbildungsplätzen schafft das Unternehmen Perspektiven für junge Erwachsene wie William Tighe und Dielachshan Nesaratnam.
«Wie willst du leben?» – dies ist eine der ersten Fragen, welche Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestellt wird, die eines der Wohnangebote von obvita im Rahmen von «Wohnen im Jugendalter» in Anspruch nehmen wollen. «Die Ziele sind sehr individuell», sagt Niklaus Keller, der als Koordinationsperson tätig ist. Auch die Gründe, weswegen jemand Unterstützung benötige, seien vielfältig, ebenso wie der jeweilige Betreuungsbedarf, der von Person zu Person stark variieren könne.
Schnuppern im Betreuten Wohnen
Um abzuklären, ob «Wohnen im Jugendalter» im Einzelfall die passende Lösung bieten kann, beginnen alle mit zwei Schnupperwochen. Diese absolvieren sie im sogenannten Haupthaus auf dem Gelände von obvita an der Bruggwaldstrasse, wo zehn Wohnplätze mit sozialpädagogischer Begleitung im betreuten Wohnen angeboten werden. Das Wochenprogramm bietet klare Strukturen und Raum für Selbstbestimmung. Begleitet von Mitarbeitenden von obvita gehen die Bewohner*innen beispielsweise jeweils am Montagabend zum Einkauf, danach folgt eine Gruppensitzung, in der aktuelle Themen besprochen werden. «Bei obvita achten wir stark darauf, die Menschen aktiv einzubeziehen und ihre Mitsprache zu fördern», so Niklaus Keller. Einen wichtigen Teil der sozialpädagogischen Begleitung stellen soziale Kontakte sowie Sport und Vereinsleben dar. So treffen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen donnerstags oder dienstags in einer Turnhalle oder besuchen Vereine wie das Team FCSG Unified, das Torballtraining, das Blind Jogging oder den Petanque-Club
«Am liebsten mache ich Riz Casimir»
Einer der Bewohner*innen ist William Tighe. Er kam vor vier Jahren mit seiner Familie aus Deutschland in die Schweiz und suchte daraufhin einen Ausbildungsplatz – fündig wurde er bei obvita. Seit einem Jahr lässt er sich zum Industriepraktiker ausbilden, baut Komponenten von Kühlschränken zusammen, verpackt Medikamente und auch Schokolade, seine Lieblingstätigkeit. Gemeinsam mit drei weiteren jungen Erwachsenen lebt er aktuell im Haupthaus und erlernt dort die Fähigkeiten, die er für sein persönliches Ziel benötigt: Er möchte irgendwann alleine wohnen. Neben seiner Ausbildung und den damit verbundenen Aufgaben ist er viel im Haushalt tätig, erledigt die Wäsche, putzt und kocht. «Am liebsten mache ich Riz Casimir», sagt der 19-Jährige. Gerade das Einkaufen stellt ihn jedoch aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung teil-weise vor grosse Herausforderungen, wenn beispielsweise die Abteilung mit Frischwaren umgestellt wird. Obwohl er alleine wohnen möchte, gefällt ihm das Zusammenleben in der WG. So liebt er es, andere zum Spielen zu animieren, mit Begeisterung erzählt er von «Frantic», «Phase 10» und anderen Spielen. Dass zwei enge Freunde kürzlich wegen ihres Ausbildungsabschlusses ausgezogen sind, beschäftigt ihn sehr. Gleichzeitig freut er sich über Aktivitäten wie die regelmässigen WG-Weekends, welche die Jugendlichen und jungen Erwachsenen grösstenteils selbst planen. Mit Enthusiasmus erzählt William Tighe von einer Wanderung im Schnee und einem Zeltausflug an den Bodensee, bei dem das vorgesehene Velofahren wegen Starkregens buchstäblich ins Wasser fiel. «Solche Ausflüge sind sehr wichtig für die jungen Erwachsenen», erläutert Niklaus Keller, der jeweils ebenfalls daran teilnimmt. «Dabei lernen sie einerseits etwas über soziale Interaktionen, andererseits auch über den verantwortungsvollen Umgang mit einem begrenzten Budget.»
Start ins Berufsleben
Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die bei obvita leben, nutzen wie William Tighe das Wohnangebot im Zusammenhang mit einer Ausbildung. Das soziale Unternehmen bildet in 18 verschiedenen Berufsfeldern aus: von Praktikerin Hauswirtschaft über Assistentin Gesundheit und Soziales bis hin zu Polymechanikerin. Gewisse Berufsgruppen werden schweizweit einmalig mit Fokus auf Menschen mit Unterstützungs-bedarf angeboten, wodurch Auszubildende aus diversen Kantonen nach St. Gallen wechseln. «Aktuell absolvieren 76 Jugendliche bei uns eine Ausbildung oder sind dabei, sich gezielt auf eine vorzubereiten», erklärt Gabi Soldati, Koordinationsperson der Fachstelle Berufliche Bildung bei obvita. Sie arbeitet als Bindeglied zwischen der IV, den Ausbildungsverantwortlichen und den Auszubilden-den, steht mit diversen Personen in Kontakt und fördert auch die stete Weiterentwicklung des Ausbildungsangebots. Eine Zusammenarbeit mit den Wohnangeboten besteht zwar, zwischen beiden Bereichen wird jedoch bewusst eine «unsichtbare Wand» gepflegt, um die Privatsphäre der Bewohnerinnen zu schützen
Erster Arbeitsmarkt als Hauptziel
Auch der 18-jährige Dielachshan Nesaratnam wohnt bei obvita. Aus der Nähe von Rapperswil stammend, kam er aufgrund einer Vorbereitungsmassnahme für seine Ausbildung nach St. Gallen. Mittlerweile ist er im zweiten Ausbildungsjahr zum Kaufmann EBA bei obvita, macht aktuell ein Praktikum bei Swisscom und lebt teilbegleitet in einer Aussenwohnung. «Meine Eltern wollten anfangs nicht, dass ich ausziehe. Sie stammen aus Sri Lanka, wo es eigentlich üblich ist, erst mit der Hochzeit das Eltern-haus zu verlassen», erklärt Dielachshan Nesaratnam. Als sie jedoch die Wohngruppe gesehen hätten, seien sie schnell einverstanden gewesen. Ihm gefällt das Wohnsetting sehr gut, da er selbstständig leben kann, bei Be-darf jedoch eine Ansprechperson bereitsteht. Unterstützung erhält er vor allem bei schulischen und bürokratischen Themen. Aufgrund einer Sehbeeinträchtigung kann er im zentralen Gesichtsfeld nicht scharf sehen, damit habe er jedoch zu leben gelernt. Sehr geholfen habe ihm obvita bei der konstruktiven Freizeitgestaltung sowie im Umgang mit verschiedensten Menschen. In Bezug auf das Thema Wohnen hat Dielachshan Nesaratnam keine klaren Ziele, sein grösster Wunsch ist der erfolgreiche Abschluss seiner Ausbildung und langfristig eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt: «Wahrscheinlich ziehe ich wieder zu meinen Eltern, mache vielleicht eine weitere Ausbildung oder setze Pläne zur Selbstständigkeit mit meinen Freunden aus der Schul-zeit um.» Aktuell sei noch vieles offen, doch die Arbeit im kaufmännischen Bereich mit viel Kundenkontakt und Tätigkeiten am Computer mache ihm grosse Freude. Jenen, die für ein Wohn- und Ausbildungsangebot von obvita infrage kommen, empfiehlt er: «Man sollte es wirklich versuchen, es lohnt sich.»
Unterschiedliche Bedürfnisse
Die Ansprüche und Wünsche rund um die eigene Wohnsituation sind bei den Klientinnen und Klienten von obvita sehr unterschiedlich. Während manche wie Wil-liam Tighe das Setting des betreuten Wohnens schätzen, bevorzugen andere eine weniger starke Begleitung. «Gemeinsam finden wir heraus, was für die einzelne Person am besten ist», sagt Niklaus Keller. Deswegen biete obvita neben dem betreuten Wohnen auch begleitetes Wohnen sowie teilbetreutes Wohnen und eine Wohn-schule in institutionseigenen Aussenwohnungen an. In diesen Wohnungen leben jeweils bis zu drei Personen zusammen, die wie Dielachshan Nesaratnam in einem offenen, auf ihre individuelle Situation zugeschnittenen Rahmen begleitet werden. Menschen mit Beeinträchtigungen, die ausserhalb von obvita selbst eine Wohnung mieten möchten, können zudem auch Wohncoachings in Anspruch nehmen. Diese ambulante sozialpädagogische Begleitung richtet sich an Personen, die grundsätzlich selbstständig leben, jedoch für gewisse Situationen Unterstützung möchten. Unterschiedlich ausgerichtet, verfolgen all diese Angebote doch ein gemeinsames Ziel: so leben zu können, wie man persönlich leben will.
obvita – viel mehr als Sehberatung
Seit seiner Gründung im Jahr 1901 setzt sich der Ostschweizerische Blindenfürsorgeverein – 2011 von OBV umbenannt in obvita – für Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Ursprünglich auf Menschen mit Sehbeeinträchtigungen fokussiert, hat sich das Unternehmen kontinuierlich weiterentwickelt, um den sich verändernden Bedürfnissen von Klientinnen und Klienten und der Gesellschaft gerecht zu werden. So liegt der Schwerpunkt heute auch auf der Begleitung von Menschen mit Entwicklungsschwierigkeiten und psychischen Problemen. Die Organisation unterstützt ihre Klientinnen und Klienten in den Bereichen Arbeit, Ausbildung, Schule und Wohnen. Insbesondere im Zusammenhang mit Sehberatung und beruflicher Integration gehört obvita zu den wichtigsten Sozialunternehmen der Ostschweiz. Aktuell beschäftigt die Organisation rund 600 Mitarbeitende, davon 250 Mitarbeitende mit IV-Leistung.
Bericht Saint Gall / Ausgabe 07 / November 2024